Radar

Thomas Wulffen

Es scheint, als wohnten bei Nadin Reschke zwei Seelen in der Brust. Da sind zum einen die Zeichnungen, wie sie beispielhaft auf ihrer Homepage zeigen und da sind die anderen Werke, die in den öffentlichen Raum wirken oder sich aus diesem speisen. Da kann dann auch mal der öffentliche Raum ein weitgehend geschlossener sein wie ein Gefängnis, das Nadin Reschke betritt. Das geschah im Rahmen eines Ausstellungsprojekts der NGBK unter dem Titel „Knast sind immer die anderen“. Die Künstlerin hat dafür „eine übergreifende Diskussion mit Juristen, Justizbeamten und Inhaftierten und Aktivisten gesucht und aufgebaut, den ich weiterhin ausbauen möchte, um über die vorherrschenden Ausschlussmechanismen unserer Gesellschaft zu diskutieren.“ Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung sind einerseits eine Art dokumentarisches Hörspiel unter dem Titel „Platzwahl“ und „Gitterware“ (2009) ein fortlaufendes Projekt zur gefängnisinternen Produktion. So äussert sich ein Gefangener zu seinem Aufenthalt: „Ich war in Berlin, aber eigentlich war ich nie da, ich war in Moabit.“ Die Besucher der Ausstellung konnten das Band hören, während sie von dem Ausstellungraum der NGBK zur Justizvollzugsanstalt, oder auch JVZ in Moabit gefahren. Hinter dem Titel „Gitterware“ stehen wirklich Objekte, die Produktionsbedingungen in unterschiedlichen Haftanstalten abbilden. Dazu gehört seit 2009 auch ein Kiosk, in dem die unterschiedlichen Objekte gezeigt werden. Auch hier wurde die Präsentation begleitet von Gesprächen mit den Produzenten, den Inhaftierten, zum Stellenwert derartiger Arbeit in diesem Kontext.

Die Partizipation des Betrachters, der dann auch gleichzeitig Produzent und Nutzer ist, wurde deutlich in einem auf Sprache bezogenen Projekt mit dem Titel „Tongue“, dass die Künstlerin in Zusammenarbeit mit dem Künstlerinnenkollektiv aus Istanbul Oda Projesi in Kreuzberg realisierte. Dabei werden verschiedene Tableaus entwickelt, die es allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern in einem Kurs ermöglichen, über den Gebrauch von Sprache zu diskutieren und in einem wechselseitigen Prozess voneinander zu lernen. In Zusammenarbeit und durch die Partizipation aller Teilnehmer wird so ein Wörterbuch mit eigener Terminologie entstehen. Das Ergebnis dieser Unternehmung über Sprachgrenzen hinaus lässt sich hier http://tonguesprachkurse.blogspot.com/ nachvollziehen.
Und dennoch gibt es immer noch die Zeichnungen von Nadin Reschke, die zum Teil auch in Bewegung geraten wie in dem kurzen Film mit dem schönen Titel „Zweifel ist der Wolf aller Anfänge“ aus dem Jahr 2007. Da beweist sich die Künstlerin auch als Poetin des Wortes und nicht nur des Bildes. Das derartige Werke ganz selbstverständlich neben Arbeiten stehen, die auch politische Inhalte aufweisen, ist vielleicht auch ein Beleg dafür, dass diese Kunst in der Mitte der Kunst angekommen ist, wenn nicht in der Mitte der Gesellschaft.

THOMAS WULFFEN, BERLIN

Erschienen im Art Magazin online am 25.10.2010
http://www.art-magazin.de/kunst/25664/radar_thomas_wulffen

Für ihre Serie „Radar“ fragen sie Sammler, Kuratoren, Dozenten und Kritiker nach ihrem aktuellen Lieblingskünstler. Diesmal: Thomas Wulffen, Kritiker und Kurator, über die Berliner Künstlerin Nadin Reschke.